Mindfields
Mittwoch, 19. Juni 2002
Hitze in New York

Morgens klebe ich im Bett und abends klebt das T-Shirt an mir. Duschen hilft nicht. Die Stadt schleicht mit jedem Grad immer langsamer.

Ich muss den Kopf hin und her schütteln, die Ohren zu halten, um heraus zu finden, ob das Summen in meinem Kopf oder drumherum ist: die Klimaanlagen und Ventilatoren sind in der ganzen Stadt ausverkauft und brummen New York in den Wahnsinn.

Sonst Stille: kein sattes Plomp, wenn der Basketball aufschlägt, keine schimpfenden Bauarbeiter vor dem Fenster, ab und zu mal eine Alarmanlage, die in der Hitze durchdreht, es ist egal: niemand klaut heute Autos. Nichts bewegt sich.

Ich liege auf dem Bett, neben mir rührt der Ventilator in der heissen Luft. In der Zeitung steht, dass riesige Kühlschränke für Obdachlose und alte Menschen eingerichtet werden, damit niemand auf der Straße sterben muss.
Meine nassen Hände lösen die Druckerschwärze und ich lege die Zeitung weg. Starre in die heisse Luft, denke, man müsste die Hitze sehen können, sehe nichts und rechne Fahrenheit in Celsius um: x9:5+32 = 106 Fahrenheit, komme durcheinander, liege einfach nur da.

Ich laufe zum Supermarkt und kaufe was zu trinken. Niemand auf der Straße. Der Müll am Bürgersteig kocht in seinen schwarzen Tüten, Ratten müssen bei der Hitze warme Mahlzeiten essen. Ich stoppe, wie lange die Eiswürfel in meinem Wasserglas leben, versuche mich zu wundern, mit was für schwachsinnigen Dingen man sich so beschäftigen kann und
warte, dass die Videothek mir meine Filme liefert: europäische Filme. Filme
in denen Menschen bei Sonnenuntergang auf der Terrasse tanzen und über Liebe
sprechen oder so was, nicht über die Hitze. Und Jacken an haben! Und ein
bisschen Gänsehaut an den nackten Beinen unter den Röcken, vom kühlen Wind.

Ich will nach Europa und eine Jacke tragen, über der Gänsehaut. Ich laufe ein paar Schritte vor meinem Haus auf und ab. Es ist dunkel draußen, weil der Strom für die Ventilatoren und Klimaanlagen gebraucht wird. Kein Empire State Building zur Orientierung. Dafür das erste mal Sterne, ich mache die Augen zu: schwimme in dicker Luft. Ich liege im Bett und versuche weiterhin die Gleichung nach x aufzulösen, sicher bin ich mir immer noch nicht, wie viel Grad Celsius 106 Grad Fahrenheit sind.

Morgens um Drei treffe ich meine Mitbewohnerin in der Küche. Ich wünsche mir, dass sie mich wieder komplett angezogen - Hose, Pulli, Socken - sieht, nicht immer nur in Unterhose. Ist die ganze Stadt wach und liegt ohne Sinn gelähmt in dunklen Gebäuden? Ich setze mich an den Tisch und schreibe einen Brief. Einen, den man am nächsten Morgen nicht mehr abschickt; lese alle halbe Stunde den Brief noch mal und warte auf den Zeitpunkt, an dem man den Brief doch nicht wegschickt, zerreißt.

Als es hell wird, dusche ich, und starre in den diesigen trägen Sonnenaufgang, ich rufe in Deutschland an und freue mich, dass ich mir
einbilde, Wind und Regen durch die Leitung zuhören. Lese den Brief noch mal. Zur Post brauche ich viermal solange wie noch vor einer Woche. In der Post sehe ich um mich nur Menschen mit müden Augen. Alle halten Briefe in den Hände, die sie nie abschicken würden, wäre es 10 Grad kälter, hätten sie geschlafen in der Nacht. Die Hitze ist listig und träge. Ich bin müde.

Als ich aufwache, hat ein Prasseln das Brummen abgelöst. Es regnet. Die Stadt hat ihre seltsame Geschwindigkeit wieder. Ich halte meine Hand aus dem Fenster in den Regen und sehe ein paar Menschen rennen: wahrscheinlich rennen sie zur Post und holen ihre Briefe wieder zurück.

/*Geschrieben von Julia Decker am 24-08-2001
aus dem Tagebuch auf www.jetzt.de*/

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Last modified: 10.12.02, 12:22
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