Mindfields
Sommer.

weiter.

Im Sommer, wenn die Nächte mild waren und der Himmel klar und weit, übersäht mit Sternen, als wenn ein greiser Maler mit zittriger Hand den Pinsel über der Leinwand gesäubert hätte, spazierte er oft durch die Strassen. Er war groß, hager, seine Haare wurden vom lauen Nachtwind ein wenig zerwühlt aber er bemerkte es kaum, denn mit seinen Gedanken schien er stets anderswo.
Selten kamen ihm andere Menschen entgegen. Manchmal alte Männer mit ihren Hunden. Aber sie bemerkten ihn nie. Er wurde oftmals einfach übersehen, denn er war still und im Hintergrund. Er ging stundenlang durch die Strassen und Gassen. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren das leise Tapsen seiner Schritte und das Rauschen der Bäume, die vereinzelt am Straßenrand standen. Manchmal fuhr ein einzelnes Auto vorbei, manchmal seufzte er leise, blieb stehen und blickte um sich. Strich über bröckelige Hauswände, hob ein Blatt auf und fuhr mit einem Finger sanft über dessen Oberfläche. Dann ließ er es fallen und ging weiter. Vor hellerleuchteten Fenstern blieb er häufig stehen und sah einige Minuten hinein in die Zimmer.

Sein Gesicht sah dann so weich und entfernt aus und der Ausdruck darin war nicht auszumachen. Er lag zwischen tiefer Traurigkeit und kindlicher Freude und umfasste noch dazu alles dazwischen.
In mancher Nacht begegnete er Gruppen von betrunkenen Heimkehrern die laut und fröhlich ihren Weg durch die Stadt suchten. Er stoppte und sie rannten ihn fast über den Haufen. Er blieb stumm und sah sie nur an. Die Jugendlichen wurden einen Moment lang ruhig, schüttelten dann jedoch die Köpfe und zogen weiter, als wenn nichts gewesen wäre.

Er kam nie vor vier Uhr nachts zurück nach Hause. Wie ein Schatten erschien er an der Straßenecke und lautlos fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Ich saß nachts immer lange auf dem Balkon und erledigte diverse Schreibarbeiten, den es fiel mir leichter in der nächtlichen Stille zu arbeiten und müde wurde ich selten. Teilweise bemerkte ich nicht, wenn er zurückkam. Er war einfach zu leise, fast heimlich. Wenn ich dann morgens frierend im Stuhl sitzend erwachte, wusste ich, ich hatte ihn wieder verpasst. Er wohnte ein Stockwerk unter mir und manchmal begegneten wir uns im Hausflur. Er sagte nie ein Wort sondern sah mich nur immer forschend an. Er mag Mitte zwanzig gewesen sein. So genau konnte ich das nie sagen.

Ich weiß nicht mehr, in welchem fixen oder trunkenen Moment, in welcher Nacht ich beschloss ihm zu folgen. Es war für mich ein wenig wie Scottland Yard spielen- die Jagd nach Mr.X. Ich gab mir verdammt viel Mühe, damit er mich nicht bemerkte und wie es aussah, war ich erfolgreich. So lief er weiter durch die Nächte, durch die Stadt und ich, sein Schatten, folgte ihm. Er führte mich in Ecken und Gegenden, die ich nie zuvor gesehen hatte. Hinterhöfe, die wie kleine, verwunschene Parks unter den Sternen erblühten und auf deren anderer Seite alte Herrenhäuser ihre Umrisse gegen den dunklen Himmel warfen. Straßen, die noch mit alten Kopfsteinen gepflastert waren. Orte, in denen seit Jahren niemand mehr zu leben schien.
Tagelang folgte ich seinem Schuhklappern und Seufzen. Immer darauf bedacht, still und im Verborgenen zu bleiben. Unbemerkt.
Es war immer ein bisschen... spannend... kribbelig. Ich fieberte jede Nacht aufs Neue und horchte in den Hausflur, nach dem Schließen seiner Tür, welches mein Zeichen zum Aufbruch war.
Wenn es anfing zu regnen während wir unterwegs waren, streckte er sein Gesicht dem Himmel entgegen. Ließ die Tropfen seine Stirn, seine Wangen hinablaufen. Ann stand er einfach da und es sah fast so aus, als würde er weinen. Aber um seinen Mund lag ein unglaublich glücklicher Zug. Ich starrte ihn an und spürte die kleinen Tropfen kaum, die mir durch die Haare rannen und sanft meine Haut trafen.

In solchen Augenblicken durchfuhr mich eine scharfe Schuldigkeit. Ein unwohles Gefühl. Als ob ich einen verbotenen Ort betreten hatte, etwas sah, was nicht für meine Augen bestimmt gewesen war. Ich schob dieses Gefühl schnell bei Seite. Nur morgens, wenn ich erschöpft von den Wegen im Bett lag und mir die Bilder wieder vor Augen rief, dann kehrte es zurück. Dieses seltsame schlechte Gewissen. Kurz bevor ich weg dämmerte.
Meine Freunde sorgten sich ein wenig und lächelten über meine schwachen Kommentare, wenn ich versuchte zu erklären, dass sich meine allgemeine Schlaflosigkeit momentan etwas vertiefte. Gutmütig rieten sie mir zu Rotwein am Abend und dem Nachtjournal. Aber ich lächelte nur still in mich hinein und schwieg dazu. Es war mein kleines Geheimnis.

Eines Nachts verlor ich ihn. Er war plötzlich verschwunden und ich vermutete, ich hatte kurz nicht aufgepasst. Ich sah mich um. Er blieb unauffindbar. Die Stille legte sich bedrohlich und schwer um mich. Ich merkte, wie alleine ich hier war. Alleine. Ich wusste nicht wo ich war und in der Ferne donnerte es. Ein Gewitter nahte. Ich wusste nicht, wie weit es bis nach Hause war, geschweige denn in welcher Richtung dieser Ort lag. Normalerweise wäre ich ihm bis kurz vor die Haustür gefolgt, aber er war nirgends zu sehen. Weg. Fort. Verschwunden.
Kühler Wind kam auf und ich zog fröstelnd meine Jacke enger um meinen Körper. Drehte mich orientierungslos im Kreis und versuchte herauszufinden welcher weg mich Heim brächte. Ich lief ängstlich durch die dunklen Straßen und als die ersten dicken Tropfen auf den Asphalt klatschten rannte ich einfach los.

Etwa eine Stunde später, zitternd und völlig durchnässt, stand ich wieder im Hausflur. Mir war zum Heulen zumute, kalt und ich hatte Furchtbare Angst gehabt. Allein. Dort draußen. Leise fluchend schleppte ich mich bis in den zweiten Stock, in dem meine Wohnung lag. Im ersten Stock warf ich einen flüchtigen Blick auf seine Haustür.
Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, da legte sich eine Hand von hinten auf meine Schulter. Ich schrie auf und fuhr ruckartig herum. Er stand hinter mir und sah mich mit großen Augen an. Sie waren braun. Das hatte ich vorher nie bemerkt.
„Warum?“ fragte er mit einer Stimme, die tiefer war, als ich erwartet hatte. Als ich ihn reden hörte, war es mit meiner mühsam aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung vollkommen vorbei.

Ich sank schluchzend an seine Schulter und merkte nur noch, wie er mir den Schlüssel aus der Hand nahm und mich in meine Wohnung führte.
Er saß neben mir auf dem Bett und hielt meine Hand, bis ich mich beruhigt hatte. Seien Hände waren warm und trocken. Das Gesicht halb in den Kissen vergraben bleib ich liegen und wagte kaum ihn anzublicken. Ich kam mir unglaublich dämlich vor.
Als er nach einer Ewigkeit anfing zu sprechen sagte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme nur: „Dummes Mädchen. Verdammt leises dummes Mädchen! Ich hätte dich fast nicht bemerkt, aber dein Seufzen war zu reizend- und viel zu laut in der Nacht.“ Ich seufzte.

Er begann zu erzählen.
Von sternenklaren Sommernächten. Von dem Duft der blühenden Bäume und dem warmen Licht, das aus den Zimmerfenstern auf den Gehweg fiel. Von den Vögeln, die Nachts leise im Schlaf kleine, zierliche Geräusche von sich gaben. Von winzigen Glühwürmchen, die über gemähten Wiesen tanzten. Von Strassen und Gassen, die nachts so anders aussahen als tagsüber, wenn die Stadt und die Menschen laut auf ihnen wüteten.
Er hielt die ganze Zeit meine Hand und ich schlief ein, von seinen Geschichten mit auf die Reise genommen, betäubt von den Bildern und seiner Stimme. Ich schlief lange und traumlos.
Als ich aufwachte war er fort.
Neben mir auf dem Kopfkissen lag ein Eichenblatt. In unserem Stadtteil hatte es nie Eichen gegeben. Nur Lindenbäume.

/*Geschrieben von home-coming-queen am
24-06-2002 aus dem Tagebuch auf www.jetzt.de*/

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Hitze in New York

Morgens klebe ich im Bett und abends klebt das T-Shirt an mir. Duschen hilft nicht. Die Stadt schleicht mit jedem Grad immer langsamer.

Ich muss den Kopf hin und her schütteln, die Ohren zu halten, um heraus zu finden, ob das Summen in meinem Kopf oder drumherum ist: die Klimaanlagen und Ventilatoren sind in der ganzen Stadt ausverkauft und brummen New York in den Wahnsinn.

Sonst Stille: kein sattes Plomp, wenn der Basketball aufschlägt, keine schimpfenden Bauarbeiter vor dem Fenster, ab und zu mal eine Alarmanlage, die in der Hitze durchdreht, es ist egal: niemand klaut heute Autos. Nichts bewegt sich.

Ich liege auf dem Bett, neben mir rührt der Ventilator in der heissen Luft. In der Zeitung steht, dass riesige Kühlschränke für Obdachlose und alte Menschen eingerichtet werden, damit niemand auf der Straße sterben muss.
Meine nassen Hände lösen die Druckerschwärze und ich lege die Zeitung weg. Starre in die heisse Luft, denke, man müsste die Hitze sehen können, sehe nichts und rechne Fahrenheit in Celsius um: x9:5+32 = 106 Fahrenheit, komme durcheinander, liege einfach nur da.

Ich laufe zum Supermarkt und kaufe was zu trinken. Niemand auf der Straße. Der Müll am Bürgersteig kocht in seinen schwarzen Tüten, Ratten müssen bei der Hitze warme Mahlzeiten essen. Ich stoppe, wie lange die Eiswürfel in meinem Wasserglas leben, versuche mich zu wundern, mit was für schwachsinnigen Dingen man sich so beschäftigen kann und
warte, dass die Videothek mir meine Filme liefert: europäische Filme. Filme
in denen Menschen bei Sonnenuntergang auf der Terrasse tanzen und über Liebe
sprechen oder so was, nicht über die Hitze. Und Jacken an haben! Und ein
bisschen Gänsehaut an den nackten Beinen unter den Röcken, vom kühlen Wind.

Ich will nach Europa und eine Jacke tragen, über der Gänsehaut. Ich laufe ein paar Schritte vor meinem Haus auf und ab. Es ist dunkel draußen, weil der Strom für die Ventilatoren und Klimaanlagen gebraucht wird. Kein Empire State Building zur Orientierung. Dafür das erste mal Sterne, ich mache die Augen zu: schwimme in dicker Luft. Ich liege im Bett und versuche weiterhin die Gleichung nach x aufzulösen, sicher bin ich mir immer noch nicht, wie viel Grad Celsius 106 Grad Fahrenheit sind.

Morgens um Drei treffe ich meine Mitbewohnerin in der Küche. Ich wünsche mir, dass sie mich wieder komplett angezogen - Hose, Pulli, Socken - sieht, nicht immer nur in Unterhose. Ist die ganze Stadt wach und liegt ohne Sinn gelähmt in dunklen Gebäuden? Ich setze mich an den Tisch und schreibe einen Brief. Einen, den man am nächsten Morgen nicht mehr abschickt; lese alle halbe Stunde den Brief noch mal und warte auf den Zeitpunkt, an dem man den Brief doch nicht wegschickt, zerreißt.

Als es hell wird, dusche ich, und starre in den diesigen trägen Sonnenaufgang, ich rufe in Deutschland an und freue mich, dass ich mir
einbilde, Wind und Regen durch die Leitung zuhören. Lese den Brief noch mal. Zur Post brauche ich viermal solange wie noch vor einer Woche. In der Post sehe ich um mich nur Menschen mit müden Augen. Alle halten Briefe in den Hände, die sie nie abschicken würden, wäre es 10 Grad kälter, hätten sie geschlafen in der Nacht. Die Hitze ist listig und träge. Ich bin müde.

Als ich aufwache, hat ein Prasseln das Brummen abgelöst. Es regnet. Die Stadt hat ihre seltsame Geschwindigkeit wieder. Ich halte meine Hand aus dem Fenster in den Regen und sehe ein paar Menschen rennen: wahrscheinlich rennen sie zur Post und holen ihre Briefe wieder zurück.

/*Geschrieben von Julia Decker am 24-08-2001
aus dem Tagebuch auf www.jetzt.de*/

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